Bernd Salzer

Selthaft? Fabelsam?

Da hat einer die Sprache verdreht. Hat aus etwas Gewohntem, Geläufigem etwas Fremdes, Befremdliches gemacht. Etwas, das uns aber plötzlich doch eigenartig vertraut vorkommt. Seltsam! Fabelhaft? So kann es uns beim Betrachten der Bilder von Bernd Salzer gehen: Auf den ersten Augenblick meinen wir zu erkennen, was da zu sehen ist, worum es geht. So aufdrängend realistisch springen uns viele Motive entgegen. Doch schnell verwischt oder besser verfremdet sich dieser scheinbar klare Eindruck und macht einer Hintergründigkeit, manchmal fast schaurigen Doppelbödigkeit Platz, die uns nicht kalt läßt.

Das kann doch wohl nicht wahr sein, was da alles zu sehen ist! Doch so wenig sich der Betrachter wünscht, diesem fetten Schwein, dem Koloß mit dem Messer, der Hyäne auf den Krücken in seiner Lebenswelt zu begegnen oder dem Pulcinella unter die hohlen Augen zu kommen, so sehr ziehen Bernd Salzers Gemälde den Betrachter in seinen Bann, versetzen ihn in eine ambivalente Spannung, der er sich nur mühsam entziehen kann: die Spannung seiner ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Unästhetischen. Wer jetzt eine kantige, kräftige "Charakterfigur” erwartet hat, der begegnet mit Salzer einem schmalen, eher zurückhaltend wirkenden Menschen, klare, eingehend und scharf beobachtende Augen, gerne ein ironisches Lächeln im Mundwinkel, und stets neugierig auf sonderliche Anblicke und Begegnungen am Rande des Geschehens.

Ein guter Beobachter ist er schon immer gewesen. Sein bewußtes zeichnerisches Leben beginnt eigentlich mit vier. Schon als Schulkind nutzt er zusätzliche Freiheit in Grippezeiten und zeichnet unermüdlich Steinzeitgestalten, Germanen, Ritterburgen, bringt geschickt Flugzeuge und Panzer aufs Papier, baut und bemalt sich später sogar eine eigene Apollo-Rakete. Aus Pappe, für’s Zimmer. In der Schule bringt er nur in “Bildender Kunst” die besten Noten heim. Er malt gerne und mit Hingabe geografische und historische Motive, Klassenarbeiten und Hausaufgaben illustriert er zuweilen mit treffenden Zeichnungen, wie wenn er sich mit seinen Bildern lieber und besser ausdrücken würde als mit der Sprache. Später illustriert er sich Science Fiction-Romane von Stanislaw Lem, die ihn besonders faszinieren.

Wo immer er hinkommt, nimmt der Augenmensch Salzer Bilder, Motive, Formen auf, zeichnet und malt frei aus dem Gedächtnis, bringt Träume und Phantasien in scheinbar realistische Formen. Wenn er eine Begebenheit, eine Landschaft, einen Ort – manchmal nach langer Latenzzeit – “ausgebrütet” hat und dann ungeduldig ins Bild bringt, kann er oft eine eindrückliche Geschichte dazu erzählen. Aber im Kopf und auf dem Papier hat sich diese schon längst verändert, ist entgleist, seltsam oder genialisch mutiert: Der Seemann Störtebecker etwa findet sich aufrecht aber kopflos vor dem Hintergrund der Kulturstadt Dresden. Ein Harlekin, Salzers persönliche Symbolgestalt, vollzieht seinen verqueren Schulreifetest unter dem geifernden Maul eines teuflischen Säulenheiligen. Gänzlich Unrealistisches zeigen seine Bilder oft, Fiktionales, das auf eine faszinierende Art natürlich, beinahe naturalistisch aussieht. Viele seiner Motive und Details hat er also erfunden, aber keines seiner Bilder ist reine Phantasie, jedes hat vielfältige Bezüge zu Beobachtungen und Erlebnissen des Künstlers.

Dabei sind diese monumentalen Fabelwesen nur ein kleiner Aspekt von Salzers künstlerischer Tätigkeit, die malerisch umgesetzten “großen” Phantasien. Er selbst sieht sich eher als Vertreter der kleinen Formen, als einen Zeichner, eng verwandt mit Horst Janssen und in “geistigem Konsens” seinem großen Lehrer Peter Grau verbunden. Und seine Schubladen sind voll von noch unveröffentlichten Skizzen und Werken.

Genauso eigentümlich wie seine Themen und Motive ist Salzers Maltechnik. Als Malgrund verwendet er gern Batist, den er mit Knochenleim auf Papier aufzieht. So entgeht er dem “weißen Blatt”, vor dem so viele Künstler einen Heidenrespekt haben. Der gelbliche Untergrund, der dadurch entsteht, enthält mit seinen Unebenheiten und Flecken schon einen Vorschein des Motivs, bietet mit seiner Struktur beinahe etwas wie eine angedeutete “Phantasielandschaft”, in die der Künstler dann seinen ersten Strich setzt und damit den Raum definiert und aufteilt.

Meistens beginnt er mit einer Skizze, die die Gesamtkomposition mal genau, mal in den wichtigsten Umrissen festhält. Dann wird aquarelliert: einmal, zweimal, dreimal, bis die Idee von der Wirkung des Bildes und seiner Tönungen, von hell und dunkel, von Schatten und Licht gefunden und festgelegt sind. Und meistens verändert sich die Idee – das Ergebnis sowieso – im Verlauf der Arbeit. Aus dem zeichnerischen wird ein malerischer Prozess, mit einer eigenen, nie voraussehbaren Dynamik der Farben und Formen. Es entstehen keine ausgedachten, konstruierten Bilder – die Werke schälen sich heraus, kommen manchmal geradezu zum Ausbruch.

So geschieht es vor allem bei den Bildern, die Salzer frei auf’s Papier bringt. Während etwa der Knochenfisch, die Hündin der Welt oder der Störtebecker im wesentlichen kolorierte Zeichnungen sind, ist der große grobe Elefant, ist der Pulcinella ohne einen Bleistiftstrich in absoluter Freiheit entstanden. Keine Linie, die den Maler binden würde oder an sich festhalten könnte.

Es wird also aquarelliert – aber wie wird aquarelliert! Salzer geht an seine Aquarelle wie wenn er in Öl malen würde: kräftige auftragende Farben, beherzte, teilweise raumgreifende Pinselstriche. Und doch erzielt er keineswegs “ölige” Effekte: Mit den lasierenden Möglichkeiten der Aquarellfarbe bewirkt er einerseits realistische Figuren und Räume, dahinter aber eine äußerst faszinierende Durchsichtigkeit: Vor uns steht etwas, unübersehbar, drastisch. Und darin, dahinter schimmert es durch, vieldeutig und spannungsreich. Was wir vorher schon bei vielen seiner Motive charakteristisch fanden, wiederholt sich hier in der Techink, in der Gesamtwirkung von Bernd Salzers Bildern.

Aquarellieren, zumal in mehreren Schichten, heißt fixieren. Und auch hier hat Salzer seine ganz persönliche technische Variante: Er verwendet den bei der Ölmalerei gebräuchlichen Dammar-Firnis, der eine wasserabweisende Oberfläche hinterläßt. Die nächste Farbschicht macht dadurch einen ganz eigentümlich perlenden Effekt, ein bedeutsames Ingredienz der Gesamtwirkung von Salzers Bildern: Sie erscheinen älter, gröber strukturiert und ihre Oberfläche weist zum Teil die Rißstruktur alter Meister auf. Klar distanziert sich Salzer von jeder Art vordergründig auf Effekte angelegter Malerei. Das kann er nicht. Und richtig, wenn wir einmal näher herangehen, geschieht etwas Erstaunliches: So wirkungsreich und realistisch seine Bilder in ihrer Gesamtschau daherkommen, so abstrakt zeigen sie sich in ihren Teilen, im Detail! Abstrakte Klekse, Farbspritzer und Striche erzielen im Zusammenhang und aus der Distanz die Illusion einer oft äußerst befremdlichen Realität.

Vielleicht liegt ja in dieser illusionären Wirkung, in der weiten Wahrnehmungs- und Interpretationsfähigkeit dieser Bilder eine ganz spezifische Chance und Faszination für den Betrachter: Wir können in die skurilen Phantasieräume und Lebenslandschaften hineingehen, uns dort umsehen, in die “starken” Figuren schlüpfen und uns imaginativ in ihrer Haut bewegen. Ich bin ganz sicher: Wir werden uns dort mit den eher hintergründigen Dimensionen unserer Identität erleben, den ungelebten, den heimlichen und unheimlichen Seiten. Und wir können bereichert – und auch sehr erleichtert – zurückkehren in unsere nüchterne und gesicherte Alltagswelt.

Arnulf Greimel